Lisa*, 35

PSSD macht mich ohnmächtig und belastet mich sehr


 Es ist Sommer 2005. Ich bin 20 Jahre alt. Im Jahr zuvor habe ich Abitur gemacht. Danach herrscht eine große Unsicherheit, wie der weitere Weg aussehen soll. Das begonnene Studium fühlt sich nicht richtig an. Stattdessen bewerbe ich mich um eine Berufsausbildung. Die Bewerbungsverfahren strengen mich an. Ich war ein stilles, schüchternes Kind. Sprach mit den Eltern, Geschwistern, Familie und guten Freunden. In anderen sozialen Situationen, z.B. in der Schule, tat ich mich schwer.

Im selben Jahr zerbricht die langjährige Beziehung zum Jugendfreund. Die Großmutter verstirbt. Ich fühle mich über einen längeren Zeitraum nicht gut. Das fällt in der Familie auf. Es wird mir geraten, professionelle Hilfe zu suchen. Ich will es richtig machen. Wende mich an den Hausarzt. Der überweist an einen Psychiater. Dieser diagnostiziert eine Depression und Angststörung. Eine Kombination aus Psycho- und Psychopharmakotherapie mit dem Selektiven Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Hemmer (SSNRI) Venlafaxin wird empfohlen. Ich vertraue dem Arzt. Suche mir eine Therapeutin und beginne mit der Einnahme.

"Das Medikament soll sehr wirksam sein. Über etwaige Nebenwirkungen wird nicht gesprochen."

Venlafaxin macht mich müde. Das sei die Depression. Ich müsse abwarten. Es dauere einige Wochen bis es wirke. Ich nehme es weiter. Das Kribbeln im Bauch hört auf. Ich kann nicht mehr weinen. Nicht mehr träumen. Habe ruhelose Beine. Nehme an Gewicht zu.

Mehrere Absetzversuche in den nächsten Jahren scheitern. Schon wenn ich das SSNRI verspätet am Tag einnehme, merke ich es. Ich versuche es immer wieder. Aber es funktioniert nicht. Ich habe Gehirnschläge und Gedächtnisstörungen. Antidepressiva machen nicht körperlich abhängig heißt es. Einen Entzug gäbe es nicht. Es sei noch zu früh. Das sei die Grunderkrankung, die wieder zum Vorschein käme.

Ich lebe mit Venlafaxin. Viele Jahre. Mit 28 Jahren weise ich mich selbst in eine Klinik ein. Bekomme verschiedene andere Psychopharmaka (u.a. Paroxetin). Ich will nicht mehr. Stelle die Behandlung in Frage. Man rät mir ab, die Behandlung abzubrechen. Ich mache es trotzdem.

Ich möchte ohne Medikation leben. Mir geht es sehr schlecht. Ich halte fünf Monate durch. Aber es geht mir körperlich und psychisch nicht besser. Ich kann nicht mehr. Der Hausarzt verschreibt ein anderes SSRI (Sertralin). Ein neuer Psychiater stellt auf Fluoxetin (SSRI) um. Ich nehme weiter an Gewicht zu. Ich bin 30 Jahre alt. Unterstützung finde ich durch ein Peer-to-Peer-Selbsthilfe-Forum.

Wieder versuche ich das Medikament zu reduzieren. Ich mache es über mehrere Monate in kleinen Schritten. Wieder schaffe ich ein paar Wochen. Doch der Zusammenbruch kommt diesmal zeitverzögert. Ich habe unter anderem starke Probleme mit dem Sehen.

Ein weiterer Klinikaufenthalt folgt. Ich werde wieder auf ein neues SSNRI (Duloxetin) umgestellt. Ich kann nicht mehr richtig Wasser lassen. Mir sind sexuelle Einschränkungen bewusst. Einen Orgasmus erreiche ich nicht mehr.

"Ich versuche wieder das Antidepressivum abzusetzen. Diesmal in Milligrammschritten über zwei Jahre. Zum Ende hin wird es immer schwieriger. Immer wieder setze ich eine Reduktion aus oder muss einen Absetzschritt zurückgehen."

Ich finde einen Psychotherapeuten, der mich beim Absetzen des Medikaments begleitet. Trotzdem ist es schwer. Ich weiß nicht, ob ich es schaffen kann und ich weiß nicht, was mich erwartet. Ich mache weiter.

Im Frühjahr 2017 bin ich medikamentenfrei. Ich bin 32 Jahre alt. Ich kämpfe. Es geht mir schlecht. Aber ich will durchhalten.

Es wird weitere anderthalb Jahre dauern bis ich mich langsam erhole. Mein Gewicht wird sich normalisieren. Die bleierne Dauermüdigkeit schwindet. Meine Emotionsfähigkeit kehrt zurück. Ich fange noch einmal von vorne an nach über einem Jahrzehnt der SSNRI / SSRI-Einnahme.

"Aber sexuelle Probleme bleiben. Verschärfen sich gar nach dem Absetzen. Meine Genitalien fühlen sich taub an. Mein Orgasmus wird verschluckt. Ein Höhepunkt, der nur noch in Muskelkontraktion ohne Befriedigung und Gefühl endet."

Die PSSD (Post SSRI Sexual Dysfunction) macht mich ohnmächtig und belastet mich sehr. Ich versuche andere Ursachen auszuschließen. Der Psychiater, der mir die Antidepressiva verschrieben hat, sieht keinen Zusammenhang. Ich fühle mich nicht ernst genommen. Andere Ärzte glauben mir. Können mir aber bisher nicht helfen. In der ersten Zeit bin ich sehr verzweifelt und wütend auf mich, dass ich durch meine damalige Entscheidung, Antidepressiva einzunehmen, diesen Zustand verursacht habe. Ich will mich nicht der Verantwortung entziehen, aber ich möchte auch wieder gesund werden.

Ich bin jetzt 35 Jahre alt. Im März lebe ich vier Jahre ohne Medikation. Die beschriebene Symptomatik hält weiter an. Meine Lebensqualität ist dadurch stark beeinträchtigt. Beziehungen zu Partnern sind erschwert. Meine Sexualfunktion war immer ein wichtiger Bestandteil meines Lebens und meiner Persönlichkeit. Ich habe mit der Beeinträchtigung etwas verloren, was mich mit sehr großer Trauer erfüllt.

An manchen Tagen kann ich besser mit der Situation umgehen, aber an anderen Tagen ist es schwer. Ich behalte grundsätzlich die Hoffnung, dass es sich noch regenerieren kann und versuche, dies so gut ich kann durch einen gesunden Lebensstil zu unterstützen. Neben meiner Familie sind Sport und Musik in den ganzen Jahren meine größte Unterstützung gewesen. Gleichzeitig hoffe ich darauf, dass irgendwann die Ursache für die Erkrankung gefunden und eine Behandlung möglich wird.

Ich habe nach vielen Jahren einen Weg aus der Dauermedikation gefunden. Aus heutiger Sicht käme für mich für meine Ausgangsproblematik eine medikamentöse Behandlung nicht mehr in Frage. Aufgrund der Erfahrungen, die ich gemacht habe, wünsche ich mir sehr, dass behandelnde Ärzte vor Verschreibung eines SSRI / SSNRI umfassender über Absetzerscheinungen und mögliche temporäre und persistierende Nebenwirkungen aufklären, sodass der Patient eine informierte Entscheidung in Bezug auf eine Behandlung für sich treffen kann.

Mir ist es sehr schwergefallen, meine Geschichte aufzuschreiben und zu veröffentlichen. Aber ich hoffe, mein Beitrag kann dabei helfen, auf das Post-SSRI-Sexual-Dysfunction-Syndrom aufmerksam zu machen.
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